Das Credo der Evidenzbasierten Medizin (EbM) ist das Lieblings-Argument von Kritikern der Homöopathie. Warum? Weil es sich – vermeintlich – so einfach auf den Punkt bringen lässt: „Keine ausreichende Studienlage, also nicht evidenzbasiert“. Bereits Studierende antworten oft auf die Frage, was evidenzbasierte Medizin denn sei: „Entscheidung nach Studienlage!“ Aber ist es das, worum es David Sackett wirklich ging?

In seinem bereits 1996 veröffentlichten Artikel „Was evidenzbasierte Medizin ist und was sie nicht ist“ schreibt Sackett sehr deutlich:

“Gute Ärzte nutzen beides: ihre individuelle klinische Expertise und die beste verfügbare externe Evidenz, keines von beiden reicht allein. Ohne klinische Expertise droht das praktische Tun von der Evidenz tyrannisiert zu werden, denn selbst exzellente externe Evidenz kann für den individuellen Patienten nicht anwendbar (inapplicable) oder unpassend (inappropriate) sein. Ohne die aktuelle beste Evidenz droht das praktische Tun schnell zu veralten zum Schaden des Patienten. Externe Evidenz kann informieren, aber niemals die individuelle klinische Expertise ersetzen und es ist diese Expertise, die entscheidet, ob eine externe Evidenz im individuellen Patientenfall überhaupt angewendet werden und – wenn dem so ist – wie diese in die klinische Entscheidung einbezogen werden sollte.“

Ist das von Bedeutung? Selbstverständlich, denn bis heute findet in der Medizin Vieles Anwendung, was lediglich tradiert ist oder sich durch Gewohnheit und Erfolg etabliert hat. Und bestimmt ist es gut, wenn sich der Eminenz-basierten Medizin („der Chef hat das schon immer so gemacht“) eine Evidenzbasierte Medizin entgegenstellen kann („bei sehr vielen Menschen ist der Verlauf aber genauso, unabhängig von der Maßnahme des Chefs“ oder sogar „viele Menschen leben länger ohne diese Maßnahme des Chefs“).

EbM also als Hilfe, die eigene Erfahrung und die Erfahrungen von Vielen in einen Kontext zu bringen.

Eine große Stärke der EbM für die tägliche Praxis ist vermutlich, dass sie uns gute Daten liefert, etwas Unwirksames (oder gar Schädliches) zu unterlassen lassen, oft ohne jedoch von solider Studienlage gestützte wirksame Alternativen zu liefern. Ein gutes Beispiel dafür ist die aktuelle EbM-basierte Nationale Versorgungsleitlinie Rückenschmerz, die in vielen Punkten berechtigte Negativempfehlungen ausspricht, während viele Positivempfehlungen nicht oder schwach unterstützt, teilweise  nur konsensuell und daneben oft realitätsfremd und kaum hilfreich für die tägliche Praxis sind.

Denn es ist oft viel schwieriger, solide Daten zur Unterstützung wirksamer Verfahren zu erbringen. Das liegt auf Studienebene an Faktoren wie finanziellem Support, Heterogenität im Design, fehlender Randomisierung, unterschiedlich durchführbarer Verblindung, hochvariabler Ein- und Ausschlusskriterien und vielem mehr, bei Leitlinien wohl auch dem Einfluss unterschiedlicher Lobbygruppen (Wie wäre beispielsweise sonst zu erklären, dass z.B. Akupunktur in den britischen EBM-NICE Guidlines bei jeder Form von Rückenschmerz als klare Negativempfehlung gelistet wird, während sie in Deutschland 2017 in die nationalen Versorgungsleitlinien sowohl bei akuten wie bei chronischen Rückenschmerzen als Kann – Empfehlung aufgenommen wurde?) Wie biegbar ist also Evidenzbasierte Medizin?

Und wie steht es um die Übertragbarkeit auf die reale Praxissituation? Meta-Analysen enthalten – für die bessere Vergleichbarkeit – in der Regel homogene Studiengruppen, aber in den seltensten Fällen reale Patienten mit ihren Begleiterkrankungen. Zulassungsstudien sind nicht an komplexen Patienten mit Zusatzerkrankungen erprobt und oft genug scheitert die Leitlinien-Therapie, weil sie beim individuellen Patienten wegen zusätzlicher Erkrankungen nicht anwendbar ist.

Evidenzbasierte Medizin ist nicht die Lehre von der doppelblind-randomisierten Studie, sondern „der gewissenhafte, ausdrückliche und angemessene Gebrauch der gegenwärtig besten vorhandenen Daten aus der Gesundheitsforschung, um bei Behandlung und Versorgung von konkreten Patienten Entscheidungen zu treffen. EbM beinhaltet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen Evidenz aus klinischer Forschung und der Präferenz des Patienten.“ Diese Definition von David Sackett, nachzulesen im „British Medical Journal“ 1996; 312: 71–2, ist die einzige und korrekte Definition der evidenzbasierten Medizin. Sie auf ein Drittel zu kürzen ist sinnentstellend.

Ist Sackett ein Fürsprecher der Homöopathie? Sicher nicht!

Aber die Menschen, die meinen, unter der Fahne der Evidenzbasierten Medizin in den Krieg gegen die Homöopathie ziehen zu müssen, sollten so informiert sein, die Definition zu kennen. Oder so ehrlich, ihren Feldzug auf alles anzuwenden, was ihrer Definition nicht entspricht (womit dann allerdings nicht mehr viel übrig bliebe vom ärztlichen Tun). Oder sie sollten endlich zugeben, dass sie die Homöopathie aus persönlichen Gründen „einfach weghaben“ wollen oder dass ihnen ihr Vorgehen derzeit einfach nur „irgendwie opportun“ erscheint.

Für Ärztinnen und Ärzte bedeutet evidenz-basiertes Handeln:

  • Die Datenlage kennen und verbessern.
  • Wissen, was schaden und was helfen könnte.
  • Unsere Erfahrung einschätzen, unsere Grenzen kennen.
  • Zuhören und in Abstimmung mit dem individuellen Patienten die bestmögliche Therapie wählen.

Ärztinnen und Ärzte mit homöopathischer Zusatzqualifikation sind mit ihrem Tun davon nicht weiter entfernt als viele unsere KollegInnen!

Autorin: Dr. Alexandra Schulze-Rohr, DZVhÄ-Vorstand Fort- und Weiterbildung