Professor Dr. Eckhart G. Hahn ist Internist und Ordinarius für Innere Medin a. D. und arbeitet an einem neuen theoretischen Rahmen für Gesundheit und Krankheit, einer evidenz-basierten integrativen Gesundheitsversorgung und an der Qualität der ärztlichen Weiterbildung. Er war Gründungsdekan der Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften der Universität Oldenburg 2011-2013, Dekan der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke 2009-2011, Vorsitzender der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) 2003-2011, Schriftleiter der GMS Zeitschrift für Medizinische Ausbildung 2003-2012 und Vorsitzender der Landesgesundheitsrats Bayern (2003-2007).
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Wie definieren Sie Integrative Medizin?

Integrative Medizin und Gesundheit ist die Praxis der Medizin, die die Bedeutung der Beziehung zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patienten betont, sich auf die ganze Person fokussiert, sich auf Evidenz stützt und alle angemessenen Möglichkeiten für Therapie und Lebensweise, von Gesundheitsberufen und -disziplinen nutzt, um optimale Gesundheit und Heilung zu erreichen.
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Gab es eine Situation, die Ihr Interesse an Integrativer Medizin ausgelöst hat?

Ja, eine Patientenkonferenz zum Thema „Reizdarm-Syndrom“ mit langjährigem Verlauf und speziellen Lebensumständen und Werten des Patienten, der nur ein gemeinsames therapeutisches Angebot aus herkömmlicher Medizin, Homöopathie und Akupunktur akzeptieren wollte. Dies wurde von den anwesenden Spezialisten gemeinsam erarbeitet, ganz analog zu einer Tumorkonferenz. Entscheidend dabei war ein unvoreingenommenes Verständnis der Therapeuten untereinander, und die Befragung des Patienten zu seinen Präferenzen.
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Warum haben Sie das Dialogforum Pluralismus in der Medizin mit dem Schwerpunkt Integrative Medizin und Gesundheit mitgegründet?

Es gab damals wenig bis keinen Austausch zwischen den herkömmlichen und den besonderen Therapierichtungen – man verstand sich nicht. Der kritische Dialog in einer pluralen Gesellschaft mit verschiedenen Menschenbildern und Vorstellungen über die Welt war aus meiner Sicht für eine Versorgung von Patienten mit komplexen Störungen der Gesundheit dringend erforderlich. Forschung und Lehre war überwiegend in naturwissenschaftlich-technischer Hinsicht akzeptiert. In Patientenbefragungen wurde ein tiefes Unbehagen darüber erkannt, und das Dialogforum Pluralismus in der Medizin sollte diese Unbehagen aufnehmen und neue Formen der Gesundheitsversorgung entwickeln – eben die Integrative Medizin und Gesundheit.
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Warum brauchen wir überhaupt Integrative Medizin?

Nur mit diesem Verfahren werden wir als Ärztinnen und Ärzte die Akzeptanz der kranken Menschen für einen auf sie abgestimmten umfassenden Heilungsprozess gewinnen und erhalten. So wenig wie der individuelle Mensch in Bruchstücke geteilt werden darf, so wenig kann die Gesundheitsversorgung in vereinzelte Maßnahmen zerfallen. Die Integrative Medizin verhindert das und gibt den Rahmen für ein gemeinsames, auf den Patienten gerichtetes ärztliches Handeln.
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Wie sehen das rein konventionell arbeitende Mediziner?

Sie sehen das kritisch und häufig ablehnend. Sie wurden weder in der ärztlichen Ausbildung noch in der Weiterbildung zur Fachärztin oder zum Facharzt auf eine Integrative Medizin und Gesundheit vorbereitet, ebenso wenig wie auf die Praxis der Evidenzbasierten Medizin und interprofessionelle Zusammenarbeit. Die gesetzlichen Regeln unseres Gesundheitssystems und die Normen von Lehre und Forschung an der meisten Medizinischen Fakultäten fördern zusätzlich die Unfähigkeit zur Integrativen Medizin.
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Welche Methoden gehören für Sie unter das Dach der Integrativen Medizin?

Die herkömmliche (konventionelle) Medizin, die klassischen Naturheilverfahren, die Phytotherapie, die Homöopathie, die Anthroposophische Medizin und die traditionelle chinesische Medizin. Traditionelle ganzheitliche medizinische Systeme aus verschiedenen Kulturkreisen (z. B. Ayurveda, Unani) dann, wenn sie für die Patientinnen und Patienten eine Bedeutung haben. Gelegentlich wird unter traditioneller Medizin die in Kulturen verwurzelte Volksmedizin verstanden, die Menschen aus diesen Kulturkreisen gewöhnt sind (Schamanen, rituelle Medizin). Daraus folgt, dass die Integrative Medizin und Gesundheit in verschiedenen Kulturkreisen/Kontinenten Unterschiede haben muss. Die Abgrenzung von Scharlatanerie und Beliebigkeit ergibt sich aus einer Kombination von wissenschaftlicher Evidenz, der Verfügbarkeit therapeutischer Expertise und den Werten der Patientinnen und Patienten.
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Die Homöopathie wird nicht immer zur IM gezählt. Gibt es innerhalb der IM auch einen Meinungsstreit?

Die ärztliche Homöopathie in Deutschland muss schon deshalb zur Integrativen Medizin und Gesundheit zählen, weil 60 % der Bevölkerung in Deutschland diese aufsuchen, weil es Evidenz für die Wirksamkeit gibt und weil sie von Patientinnen und Patienten und von erfahrenen Therapeuten als angemessen (u.a. nebenwirkungsarm) bewertet wird (s. Definition unter 2.)
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Wie setzen Sie die Maßstäbe der EbM an IM an? Oder anders gefragt: ist IM EbM?

Auch dies ergibt sich aus der Definition: es handelt sich in Analogie zur EbM um eine evidenzbasierte Integrative Medizin und Gesundheit (EbIMG). Dabei ist zu beachten, dass für die Praxis der EbM nach David Sackett außer der externen Evidenz die Expertise des/der Therapeuten und die Lebensumstände und Werte der Patientin oder des Patienten zu berücksichtigen sind. Auch die sogenannte P4-Medizin (Predictiv, Präventiv, Personalisiert, Partizipativ) lässt sich nur mit der Integrativen Medizin und Gesundheit verwirklichen. Wie in der herkömmlichen Medizin ist die externe Evidenz häufig schwach oder nicht verfügbar, was von der naturwissenschaftlich-technischen Medizin gerne übergangen wird.
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Sie haben 2018 den Beitrag Homöopathie und intellektuelle Redlichkeit – eine Stellungnahme mit verfasst – was war Ihr Anliegen?

Mich hat es Arzt und Wissenschaftler betroffen gemacht und gestört, dass die Gegner der Homöopathie Maßstäbe an die Homöopathie legen, die ihnen bei der Selbstkritik abhandenkommen. Sie fühlen sich dadurch offensichtlich der Wahrheit nicht verpflichtet: Wahrheitssuche ist aber der Kern der intellektuellen Redlichkeit in Patientenversorgung, Lehre, Forschung und Wissenschaft. Anlass war das „Münsteraner Memorandum Homöopathie“ zur Abschaffung der Zusatz-Weiterbildung Homöopathie, dass nach dem „Marburger Erklärung zur Homöopathie“ von 1992 erneut mit wissenschaftlichen Fehlinformationen genau diese intellektuelle Redlichkeit vermissen lässt. Eigene Denkweisen werden jedoch gefördert. Dem Staat ist aber nach Art. 5 (3) GG kein Wissenschafts-Richter im Sinne der Parteiergreifung für eine bestimmte grundsätzliche Denkweise. Dies entspricht der historischen Erfahrung, dass Monopolisierung einer einzigen Denkweise mit der Ausbildung totalitärer Denkstrukturen einhergeht.
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Wie empfinden Sie die derzeitige gesellschaftliche Diskussion um die Homöopathie?

Eine gesellschaftliche Diskussion um die Homöopathie findet leider nicht statt. Im Zusammenhang mit der Herausnahme der Zusatz-Weiterbildung Homöopathie ist allerdings die BLÄK vom Gesetzgeber nach Art. 2 (5) verpflichtet, Änderungen der WO, die die Ausübung des ärztlichen Berufs (auch zukünftiger Generationen) beschränken, einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Kriterien des Art. 7 der Richtlinie (EU) 2018/958 zu unterziehen und für Stellungnahmen auf ihren Internetseiten zu veröffentlichen. Dies geschah in einer Weise, die Stellungnahmen oder eine öffentliche Diskussion unmöglich machte. Die Diskussion innerhalb der BLÄK, der Delegiertenversammlung und dem Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege als Rechtsaufsicht vermittelt den Eindruck, dass Patienteninteressen keine Rolle spielen und eine öffentliche Diskussion gezielt verhindert werden soll. Damit wird aber auch die Entwicklung der Integrativen Medizin und Gesundheit stark behindert, obwohl der Landesgesundheitsrat Bayern und das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (!) dies in Resolutionen gefordert haben.

Das Gespräch mit Professor Dr. Hahn führte Christoph Trapp.