Berlin, 15. Juni 2022. In einer Hau-Ruck-Aktion haben die Delegierten des Deutschen Ärztetages am 26. Mai 2022 die Homöopathie aus der Musterweiterbildungsordnung (MWBO) der Bundesärztekammer gestrichen. Der Antrag wurde von einer kleinen Gruppe der Delegierten erst am Tag der Abstimmung  eingebracht, eine sachlich-inhaltliche Vorbereitung und Abwägung der Argumente war somit weder erwünscht noch möglich, die Einholung der fachlichen Expertise durch Anhörung von Vertreter:innen der Homöopathie im Vorfeld war nicht erfolgt, ein „audiatur et altera pars“ ganz offenkundig und ohne Rücksicht auf eine Minderheit als überflüssig erachtet worden.

In diesem Zusammenhang sei an den ehemaligen Bundestagspräsidenten  erinnert, der in seiner Abschiedsrede 2017 unter Anderem Folgendes gesagt hat:

„Eine vitale Demokratie ist nicht daran zu erkennen, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern daran, dass auf dem Weg bis zur Entscheidung Minderheiten ihre Rechte wahrnehmen können. Dafür zu sorgen ist die nicht immer einfache, aber nach meinem Verständnis vornehmste Aufgabe aller Entscheidungsträger.“ Prof. Dr. Norbert Lammert

Tatsache ist: die Mehrheit der auch von homöopathisch tätigen Ärztinnen und Ärzten gewählten Delegierten des Ärztetages fällt einer großen Zahl ihrer eigenen Kolleg:innen in den Rücken und macht sich ohne inhaltliche Auseinandersetzung die Agenda der sogenannten „Skeptiker“ zu eigen, die sich damit brüsten, die Meinungshoheit in Deutschland zum Thema Homöopathie errungen zu haben, aber mehrheitlich keinerlei Behandlungsverantwortung tragen.

Beim Deutschen Ärztetag 2018 hatte sich die Delegiertenversammlung noch mehrheitlich für den Verbleib der Homöopathie in der MWBO ausgesprochen. Was hat sich seither faktisch geändert, was die Kehrtwende der Delegierten als plausibel erscheinen lässt? Es ist anzunehmen, dass auch vor 4 Jahren die wissenschaftliche Sachlage ausschlaggebend für das Votum der Delegierten war. Zwischenzeitlich wurde Homöopathie z.B. von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) mit einer Empfehlung in die neue S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ aufgenommen (1).

Die Grundlagenforschung der letzten 10 Jahre zeigt eindeutig und reproduzierbar, dass auch homöopathisch höher potenzierte Zubereitungen im Tier- und Pflanzenmodell statistisch signifikante Effekte haben (2). Auch die Versorgungsforschung hat deutliche Hinweise dafür ergeben, dass Homöopathie im Praxisalltag über den Placebo-Effekt hinaus erfolgreich ist (3/4). Zusätzlich gibt es im Bereich von RCTs und Metaanalysen Ergebnisse, die einen Vergleich mit Studien aus dem Bereich der konventionellen Medizin nicht scheuen müssen (5).

Eine rationale Entscheidung der Delegierten hätte also zumindest das Votum aus dem Jahre 2018 bestätigen müssen.

Geändert hat sich in den letzten vier Jahren die Dramaturgie im Umgang mit der Homöopathie: der mediale und politische Druck der „Skeptiker“ hat zugenommen und offenkundig zu einem eklatanten Verlust an Solidarität mit einer Minderheit von Kolleg:innen geführt, ohne dass dem ein, wie auch immer gearteter Gewinn für Qualität und Sicherheit in der Patientenversorgung gegenübersteht.

Die Delegierten des Ärztetages haben aber nicht nur ihre eigenen Kolleg:innen kompromittiert, sondern auch sehr vielen Patientinnen und Patienten keinen Dienst erwiesen: der Wunsch der Patienten nach qualifizierter Homöopathie in ärztlicher Hand mit dem Ziel größtmöglicher Therapiesicherheit ist in der Bevölkerung ungebrochen (6/7). Mit der Streichung  der Zusatzbezeichnung entfällt der Zugriff der Ärztekammern auf die Sicherstellung der Qualität homöopathischer Behandlungsangebote. Patient:innen werden sich unter Umständen anderen „Heilern“ zuwenden und dabei therapeutische Sicherheit einbüßen. Das ist die bittere Konsequenz dieser Ärztekammerentscheidung, die zu verantworten sein wird.

Die formal demokratisch zustande gekommene Entscheidung des Deutschen Ärztetages erweist sich in ihrer Konsequenz als de-facto-Entmündigung zahlloser Patientinnen und Patienten, denen die Freiheit ihrer Therapie- und Arztwahl ohne eigene Mitsprachemöglichkeit in absehbarer Zeit irreversibel genommen sein wird. Es steht zu befürchten, dass das, was die verantwortlichen Delegierten unter dem medialen Jubel der genannten Skeptiker entschieden haben, sich als Pyrrhus-Sieg entpuppen wird.

Der Deutsche Ärztetag hat in Redebeiträgen und Anträgen sehr eindeutig eine Aufwertung der „Sprechenden Medizin“ gefordert. Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer hat dies auch in seinem Grußwort an den Deutschen Homöopathie Kongress im Mai in Münster hervorgehoben. Das, was „Sprechstunde“ eigentlich meint, beinhaltet neben „Sprechen“ immer auch „Zuhören“. Diese Art des diagnostisch-therapeutischen Prozedere, wie es auch zur DNA der Homöopathie gehört, war und ist neben der Psychotherapie und der Allgemeinmedizin ein bewährter institutionalisierter Baustein einer zukunftsweisenden und modernen Medizin. Das ärztliche „Zuhören“ in der homöopathischen Anamnese wird selbst von den Kritikern als wirksam erachtet. Der eklatante Vertrauensverlust von Teilen der Bevölkerung in eine als seelenlos erlebte konventionelle Medizin wird nur durch vertrauensbildende Maßnahmen aufgefangen, die Entscheidung über die Köpfe von Patientinnen und Patienten hinweg und die Spaltung der Ärzteschaft ist das Gegenteil davon!

Entsolidarisierung innerhalb der Ärzteschaft, Verlust an Patientenzentrierung und ein eklatanter Mangel an ärztlicher und wissenschaftlicher Streitkultur sind Merkmale dieser Deutsche-Ärztetag-Entscheidung. Es besteht die Gefahr, dass weitere ärztliche (und nichtärztliche) Therapiemethoden in den Fokus derer geraten, die  ärztliche Erfahrung als überflüssig einschätzen, die Grundlagen der Evidenzbasierten Medizin nach eigenem Ermessen umdeuten und nur noch das als Medizin gelten lassen wollen, was sich zweifelsfrei auf das Modell von Molekül-Rezeptor-Interaktionen reduzieren lässt. Es lohnt ich, in diesem Zusammenhang an den ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer zu erinnern, der sagte:

„Medizin ist keine Naturwissenschaft, sondern eine Erfahrungswissenschaft, die sich auch wissenschaftlicher Erkenntnisse aus anderen Fachgebieten bedient“. Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe

Wir erleben alle, wozu ein Verlust an Biodiversität im Bereich unserer Umwelt führen kann. Es gilt, eine zukunftstaugliche Methoden-Vielfalt auch innerhalb unserer modernen Medizin zu erhalten und irreversible Verluste zu verhindern. Nicht Macht und Einfluss halten komplexe Systeme in der Balance, sondern aufgeklärtes und respektvolles Miteinander!

Der Vorstand des DZVhÄ

Drs. Michaela Geiger, Ulf Riker, Alexandra Schulze-Rohr und Gerhard Antrup

  1. M, Lechleitner P, Gründling C, Pirker C, Grasmuk-Siegl E, Domayer J, et al. Homeopathic Treatment as an Add-On Therapy May Improve Quality of Life and Prolong Survival in Patients with Non-Small Cell Lung Cancer: A Prospective, Randomized, Placebo-Controlled, Double-Blind, Three-Arm, Multicenter Study. Oncologist. 2020;25(12); e1930-e55
  2. Critical Evaluation of Specific Efficacy of Preparations Produced According to European Pharmacopeia Monograph 2371 https://www.mdpi.com/2227-9059/10/3/552
  3. Witt CM, Lüdtke R, Baur R, Willich SN. Homeopathic medical practice: long-term results of a cohort study with 3981 patients. BMC Public Health. 2005; 5:115
  4. Beer AM, Borchard U, Frass M, et al. Homöopathie in der medizinischen Versorgung. Gesundh ökon Qual manag. 2021; 26: 245-247
  5. Randomisierte kontrollierte Studien zur Homöopathie: eine Untersuchung der Datenlage von Dr. Robert Mathie https://www.hri-research.org/de/laufende-projekte/mehr-informationen-aus-dem-vorhandenen-wissenschaftlichen-datenmaterial-ziehen/randomisierte-kontrollierte-studien-zur-homoeopathie-eine-untersuchung-der-datenlage/
  6. Securvita Krankenkasse. Langzeitstudie: Homöopathie ist wirtschaftlich und wirksam. 15.09.2020 https://www.krankenkassen-direkt.de/news/mitteilung/SECURVITA-Langzeitstudie-Homoeopathie-ist-wirtschaftlich-und-wirksam-2692040.html
  7. Meinungen zur Homöopathie. Berlin: Forsa-Umfrage F20.0082/38662; 28. Feb 2020