Homöopathie in der Praxis
Homöopathie in der Praxis

Homöopathie in der Praxis

Erfahrene homöopathische Ärztinnen und Ärzte schildern in dieser Reihe kompakt und repräsentativ Praxissituationen. Sie zeigen, wie homöopathisch ausgebildete Ärztinnen und Ärzte arbeiten und machen Erfolge nachvollziehbar.

Modell-Situation Nr. 1: Neurodermitis
Modell-Situation Nr. 2: Morbus Meniere

Modell-Situation Nr. 1: Neurodermitis

Eine Patientin leidet seit vielen Jahren an einer Neurodermitis. Konventionelle Therapieansätze haben in der Vergangenheit immer wieder zu Remissionen, aber auch zu Rückfällen nach Absetzen geführt. Von einem Hausarzt habe sie in der Vergangenheit einmal eine Gabe Sulfur bekommen, daraufhin sei ihre Haut regelrecht „explodiert“ (also ein homöopathischer Nocebo-Effekt!). Seither sei sie der Homöopathie gegenüber eher skeptisch, wolle aber noch einmal einen Versuch machen.

Die Patientin ist stämmig bis übergewichtig, hat eher grobe Gesichtszüge, das Ekzem ist, wie auch die übrige Haut am ganzen Körper sehr trocken, die Effloreszenzen sind rissig, bei der orientierenden körperlichen Untersuchung fällt dicke Hornhaut an den Fußsohlen auf, auch an den Händen ist die Haut schwielig, eine Narbe (nach Blinddarm-OP) zeigt ausgeprägtes Keloid. Zum Juckreiz des Ekzems kann sie wenig Angaben machen, überhaupt wirkt sie eher indolent und wenig differenziert.

Mit diesen Beobachtungen können erfahrene Homöopathen möglicherweise bereits eine „heiße Spur“ entdecken, aber eine sichere Arzneiwahl beruht nicht auf „Eindrücken“, sondern repertorisierbaren Symptomen.

Im Rahmen weiterer Befragung der Patientin erwähnt sie fast eher beiläufig, dass sie immer beim Bücken, also zum Beispiel beim Schüren ihrer Schuhe „zu sabbern anfange“ wie ein Hund….. Hoppla! Hier werden Homöopathen hellhörig, denn das ist ja durchaus ein Symptom, das man nicht so oft hört!

Der „Speichelfluss“ gehört zwar nicht zum Symptomenmosaik eines Ekzems, aber er charakterisiert an anderer Stelle die Konstitution des Menschen, der dieses Ekzem zu erleiden hat. Also: ein Blick ins Repertorium, und wir finden in Kapitel „Mund“ den Bereich „Speichel“ und hier als Unterrubrik sogar das Symptom „Speichelfluss (vermehrt) beim Bücken“. Zwei Arzneien sind hier angegeben, Graphites (3-wertig) und Nux vomica (1-wertig). Bei beiden Arzneien ist das Symptom also in einer Arzneimittelprüfung am Gesunden aufgetreten. Das 3-wertige Graphit (Reisblei) hat sich darüber hinaus aber auch immer wieder in Heilungen von Krankheiten bewährt, wenn dieses eigenartige Symptom – zufällig? – auch bestand.

Aha, denkt sich die Homöopathin: die oben beschriebene konstitutionelle Phänomenologie (z.B. Schwielen, Keloid) passt zu Graphites, das eigenartige Speichelsymptom weist sogar sehr deutlich auf diese Arznei (als mutmaßliches Konstitutionsmittel) hin, und Graphites ist eine der großen „Haut-Arzneien“, vor Allem, wenn die Effloreszenzen trocken und rissig sind.

Ergebnis: Nach wiederholten Gaben (im zeitlichen Abstand von 2 Wochen bis zu 3 Monaten) von Graphites C 200, C 1000 und einmalig C 10 000 verschwindet das Ekzem langsam, aber sicher, die Intervalle, in denen die Arznei wiederholt werden musste werden von Mal zu Mal länger, es kommt zu keinen Rückfällen mehr, die Haut bleibt unter dieser Therapie über Jahre symptomfrei.

Hier gab ein kleines, aber auffallendes (konstitutionelles) Symptom einen sehr eindeutigen Fingerzeig auf eine Arznei, von der man erwarten darf, dass sie derartige Hauterkrankungen (Ekzem, evtl. auch Psoriasis) heilen kann. Dieses Symptom erfüllt die Anforderung des § 153 in Hahnemanns Organon: es ist ein Symptom (Speichelfluss), das durch sein spezielles Auftreten (beim Bücken) näher modalisiert bzw. charakterisiert ist.

Modell-Situation Nr. 2: Morbus Meniere

Eine junge Patientin kommt in die Praxis, weil sie unter anhaltenden Schwindelzuständen leidet. Sowohl die Untersuchung beim Neurologen als auch eine Kernspinuntersuchung an der Uniklinik zeigten keinen organpathologischen Befund. Es wurde die Diagnose eines Morbus Meniere gestellt. Sie war bei HNO-Ärzten, die ihr leitliniengerecht ein Medikament verordneten, was ihr aber bislang keine Beschwerdelinderung brachte.

Für die homöopathische Mittelfindung ist jetzt wichtig herauszufinden, wie so ein Schwindelanfall abläuft, welche Umstände (Modalitäten) die Beschwerden bessern bzw. verschlechtern und ob es irgendwelche Begleitsymptome gibt. Natürlich ist auch die Frage nach einem Auslöser dieser heftigen Symptomatik zu klären.

Nach einem ersten Meniere-Anfall kommt es etwa zweimal pro Woche vor. Es beginnt mit einem Ohrgeräusch, das im Laufe von 2 bis 3 Tagen immer lauter wird. Das Ohr ist dann „dicht“ und sie hört fast nichts. Dann kommt ein Drehschwindel, begleitet von Übelkeit und Erbrechen. Bislang ist die Symptomatik noch nicht charakteristisch für ein homöopathisches Mittel.

Sie berichtet dann aber ganz klar die Umstände, unter denen die Symptome schlimmer werden: Augenschließen verschlimmert, ebenso jede kleinste Bewegung des Kopfes. Auch Liegen und Hinlegen sind völlig unmöglich, d.h., sie muss ganz dauern ruhig gerade sitzen, bis der Anfall vorbei ist. Das kann bis zu 3 Stunden. Ferner ist sie sehr geräuschempfindlich, Lärm kann auch einen Anfall auslösen.

Auf der Suche nach dem Auslöser für diese heftigen Schwindelanfälle wird klar, dass die Patientin einen enormen Leistungsdruck (Studium) hat, nebenbei arbeitet, um sich ihr Studium zu finanzieren und schon länger von Ängsten geplagt wird, ob sie das alles überhaupt schaffen kann. Ruhe oder Entspannung kennt sie seit vielen Monaten nicht, auch der Schlaf ist anhaltend gestört. Die junge Frau leidet also unter einem überreizten, angespannten Nervensystem, das offenbar mit den Schwindelanfällen „die Notbremse gezogen“ hat (was natürlich eine Interpretation ist, die nicht primär zur Mittelwahl führen kann!).

Die Symptome und Modalitäten der Schwindelanfälle, vor allem die Verschlimmerung bei kleinsten Bewegungen und beim Augenschließen, sowie die extreme Geräuschempfindlichkeit wiesen klar auf das homöopathische Mittel Theridion (die Orangenspinne). Auch die Vorgeschichte mit langdauernder Überreizung und Überanstrengung des Nervensystems, Druck und Angst passen zu dem Mittel.

Die Patientin erhält das Mittel Theridion C200 im Abstand von 2 Wochen zweimal und natürlich Hinweise zur Regulierung ihrer „Work-Life-Balance“. Die Schwindelanfälle sind seither nicht mehr aufgetreten, und sie hat für sich einen guten Weg gefunden, Arbeit und notwendige Erholung zu verbinden.