„Die Summe aus externer und interner Evidenz muss stimmen“
Dieser Satz stammt von …. Lauterbach? Falsch! Hirschhausen? Schön wär`s! Grams-Nobmann? Voll daneben! Sie brauchen noch ein bisschen mehr Information…? Sehr gerne, wie wär`s damit:
„Wenn in der Frage, die ein Patient aufwirft, keine randomisierte Studie durchgeführt wurde, ist nach der nächstbesten Evidenz zu suchen und diese zu nutzen“
Sie ahnen schon was? Sie brauchen noch etwas Hilfe? Also:
„In dem Maße, wie der Grad der externen Evidenz abnimmt, muss die interne Evidenz (ärztliche Kunst, Kompetenz) zunehmen“
Also bitte, jetzt sind Sie aber schon ganz nah dran! Sie meinen, der letzte Satz sei aus dem Zusammenhang gerissen? Bitte schön, so geht’s weiter im Text:
„Nur die Zunahme an interner Evidenz vermeidet in diesen Situationen eine unkontrollierbare Beliebigkeit in der Therapieentscheidung. Denn gerade in diesen Situationen kommt der Kompetenz des Arztes, seinem Können und seiner Erfahrung die entscheidende Bedeutung zu.“
Und dann kommt der erste oben zitierte Satz, da capo. Eine runde Sache eigentlich! Und sie stammt von David Sackett, dem Begründer der Evidenzbasierten Medizin!
Es entspricht der medizinischen „Leitkultur“ unserer Tage, ausschließlich (natur-) wissenschaftlichen Studienergebnissen auf dem Altar des positivistischen Zeitgeistes zu huldigen. Wer zaghaft oder auch selbstbewusst darauf hinweist, dass es daneben auch noch eine, in der Praxis gewachsene Erfahrung gibt, der oder die wird sehr rasch als Ketzer denunziert und auf dem Scheiterhaufen der reinen medizinischen Lehre verbrannt. Zumindest, wenn es um Homöopathie geht: da gibt es einen Shitstorm, wenn man sich auf Erfahrung beruft, z.B. so (auf Twitter, und das ist die absolut harmlose Variante): Erfahrung? Ich kann es nicht mehr hören. Evidenz bedeutet Wissenschaft, der Rest kann weg… und so weiter.
Sehr geehrte Ordinarien medizinischer Fakultäten, liebe Chef- und Oberärzte, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der primärärztlichen Basisversorgung: kommen Sie alle ohne Ihre Erfahrungen aus jahre- und jahrzehntelanger Praxistätigkeit aus? Folgen Sie nur noch vorgegebenen Therapie-Algorithmen? Machen Sie sich und wir uns nicht als Menschen Schritt für Schritt überflüssig? Was machen wir in unklaren Entscheidungssituationen, bei multimorbiden Patienten, bei unerwartetem Nichtansprechen unserer Therapieentscheidungen, bei nicht tolerierbaren Wechsel- oder Nebenwirkungen unserer evidenzbasierten Standart-Therapien? Oder bei Menschen am Ende ihres Lebens, wenn manche Therapieoptionen ausgeschlossen, kontraindiziert oder von den Betroffenen schlicht nicht (mehr) gewünscht werden?
Wie oft gelingt es uns denn, einen durch biomathematische Verfahren definierten „Normalpatienten“ mit einem individuellen Kranken zu vergleichen und ihm zu 100 Prozent gerecht zu werden? Ist es bewiesen, dass eine individuelle und erfahrungsgestützte Therapie im Einzelfall weniger zielführend ist als eine streng an Kriterien der Evidenzbasierung orientierte Behandlung? Die evidenzbasierte Medizin ist eine wesentliche Errungenschaft im Kampf gegen Beliebigkeit in der Therapie. Aber, wie schon Sackett hervorhob, ist EbM eben nicht nur der alternativlose Verweis auf wissenschaftliche Studienergebnisse, sondern beinhaltet ein „Sowohl, als auch“, also das neben- und miteinander von Wissenschaft und Erfahrung. Wie Sackett es eben so treffend formuliert hat: Die Summe aus Beidem muss stimmen.
Die Homöopathie wegen – angeblichen! – Mangels an wissenschaftlichen Studienergebnissen aus Köpfen, Herzen und Weiterbildungsordnungen zu streichen ist nicht rational, sondern weltanschaulich begründet. Indem man die vorhandenen Ergebnisse aus Grundlagen- und Versorgungsforschung negiert, wird im aktuellen Diskurs auch gleich der Wert von ärztlicher Erfahrung über Bord gekippt. Von den positiven Erfahrungen zahlloser Patientinnen und Patienten ganz zu schweigen! Es wird der Einfachheit halber unterstellt, dass auch die Erfahrung der Menschen bedeutungslos wären, weil die Wissenschaft es allemal besser weiß, was einem kranken Menschen gut zu tun hat und was nicht. Diese Sicht hat, mit Verlaub, etwas selbstgerecht Autoritäres an sich, und die Zensur alternativer Behandlungsoptionen wie der Homöopathie ist, wie jede Zensur auch ein potenzieller Schritt in die Unfreiheit. Dagegen sollten sich all jene wehren, denen ihre persönlichen, aber auch die politischen Freiheiten wichtig und wertvoll sind, die uns unsere freiheitliche Demokratie bietet!
Dr. med. Ulf Riker, 2. DZVhÄ-Vorsitzender